Sterben in Deutschland
Ein Nachruf
15.Januar 2011.
Ein bedeutsamer Tag, nicht unbedingt für Deutschland, aber für einige Menschen in diesem Land. An diesem Tag verstarb unsere Mutter, Großmutter, Ehefrau, Tante, Freundin. In einem Klinikum in Süddeutschland. Nach 12 Tagen Aufenthalt auf der Intensiv- und Kardiologieabteilung. Nach einem Leben voller Engagement für die Familie und Gesellschaft, angefüllt mit Arbeit als Krankenschwester, sozialer Fürsorge für die Menschen in der Umgebung, Pflege des an Demenz erkrankten Ehemannes, der Erziehung Ihres Sohnes. Und vielem mehr. Für dieses Engagement Dank an dieser Stelle. Wer sich nicht dankbar zeigte, war letztendlich die Gesellschaft - der Staat.
Beginnen möchte ich mit einem kurzem Lebenslauf meiner Mutter. Geboren am 19. Juli 1931 in Schlesien als Jüngste von 7 Geschwistern, verbrachte sie ihre Kindheit auf einen Bauernhof mit angeschlossenem Gasthof im Kreis ihrer Familie und dem Bernhardiner Barry, der sie immer beschützte, gegen wen auf immer.
Mit der Machtübernahme Hitlers und dem nachfolgenden Ausbruch des 2. Weltkrieges drang wie bei so viele Familien in der Welt das Unglück in das Leben ein. Familienmitglieder kamen ums Leben, wurden vermisst, verschwanden. Letztendlich war die Flucht aus der Heimat die einzige Lösung für das Weiterleben.
Auf der Flucht geschahen unmenschliche Dinge wie während des ganzen, aber fernen Krieges.Nun direkt vor den Augen eines jungen Mädchens. Verursacht durch den Größenwahn eines Verrückten.
Nach dem Ende der Flucht fand sich die Familie im Westfälischen wieder, als Flüchtlinge angefeindet von den Einheimischen, betrogen durch den sogenannten Lastenausgleich, verarmt und auf sich alleine gestellt.
Es stellten sich nun die Fragen der Ausbildung und Zukunft der einzelnen Familienmitglieder. Meine Mutter wählte den Beruf der Krankenschwester, ein Dienst für die Gesellschaft, absolvierte die Ausbildung in Wuppertal und wechselte später , nach einem Intermezzo an einer Privatklinik in Ludwigsburg, an das Städtische Krankenhaus in Bietigheim, an dem Sie bis zu Ihrer Rente, und darüber hinaus, arbeitete.
Doch die Arbeit endete nicht mit dem Eintritt in die Rente, die Pflege des Ehemannes infolge Demenz und Parkinson schloss sich an. Bis zu Ihrem Tod.
15.Januar 2011. Ein bedeutsamer Tag, nicht unbedingt für Deutschland, aber für einige Menschen in diesem Land. Ein Tag ohne Naturkatastrophe, ohne Flugzeugunglück, ohne einen großen Unfall im Verkehr. Zumindest im direkten Einzugsbereich des Krankenhauses, in welchem meine Mutter eingewiesen wurde.
Trotz dieser „Normalität“, dieser Banalität im Alltag, ist Nachfolgendes in einer „zivilisierten“ Gesellschaft geschehen.
Vom 02.01. – 03.01.2011
Einlieferung mit Herzinfarkt, Zuerst das Krankenhaus des Wohnortes, nachfolgend
Verlegung in das Krankenhaus der Kreishauptstadt,
Intensivabteilung
04.01.
Meine Ankunft im Krankenhaus der Kreishauptstadt
04.01. – 10./11.01.
Aufenthalt auf der Intensivabteilung, teilweise anspechbar, teilweise komatös
10./11.01.
Es erfolgte die Verlegung auf die kardiologische Abteilung, da keine Hoffnung auf Heilung bestand. Bei der Verlegung half ich selbst mit, da nur eine Pflegekraft für den Transport zur Verfügung stand. Einstellung in ein 3-Bett Zimmer, was damit vollbelegt war. Unter den beiden anderen Patienten war eine, welche sich lautstark am Tage und in der Nacht zu Wort meldete. Selbst das Einsetzen von Ohro-Pax half nichts, weder meiner Mutter noch mir, um Ruhe zu finden. Dies wäre dann wohl der Zeitpunkt gewesen, bei einem Tier die Entscheidung zu treffen, aus Tierschutzgründen das betroffene Lebewesen einzuschläfern, um ihm unnötige Qualen und Schmerzen zu ersparen. Doch einem Menschen macht man es nicht so leicht. Auf der einen Seite verteufeln christliche Fundamentalisten Sterbehilfe als unmenschlich, auf der anderen Seite aber kürzen eben diese Scheinheiligen die notwendigen Investitionen in das deutsche "Gesundheits"unwesen mit den Folgen, die nun so oder noch schlimmer erzählt werden.
12.01.
Aufgrund stark verschlechtertem Zustand erfolgte die Verlegung in das Vorzimmer des Arztzimmers. Ein Raum ohne Fenster, genutzt als Lagerraum für Verbandsmaterial usw.. Die Abschirmung zum Flur erfolgte durch einen Paravent. Pflege- und Arztpersonal lief in kurzen Abständen durch das Zimmer hindurch. Ständige Störungen durch laute Gespräche, lautes Türschlagen, Gespräche zwischen Schwestern und Ärzten in Türrahmen etc. Ich und andere Besucher meiner Mutter waren entsetzt über die Zustände, unter denen meine Mutter im Sterben lag und die Familie und Freunde Abschied nehmen mußten. Die psychischen Belastungen von mir kann ich nicht in Worte fassen, die Belastungen meiner Mutter mit Schmerzen und Angst in der Situation in DIESEM Lagerraum konnte und kann ich nur erahnen.
12.01.
Um die Zustände dokumentieren zu können, habe ich mich durchgerungen, Fotos zu machen. Dabei wurde ich von der Stationsleitung angesprochen, warum ich Fotos machte und mir wurde die Adresse des Beschwerdemanagements des Krankenhauses ausgehändigt.
12.01.
Am selben Tag führte ich noch ein Gespräch mit dem Beschwerdemanagement. Es wurde die Lage erörtert, das Bedauern über die Situation seitens des Beschwerdemanagements ausgedrückt und zugesagt, nach Möglichkeit eine bessere Situation zu erreichen. Als Erklärung wurde mitgeteilt, daß das Krankenhaus zu über 100% belegt sei, keine freien Betten mehr zur Verfügung stehen würden und Patienten bereits auf den Fluren geparkt werden müßten.(siehe Bild)
12.01.
Es erfolgte die Rückverlegung in das 3-Bett Zimmer. Nun waren wir teilweise allein, teilweise mit einer weiteren Patientin im Zimmer, bis
15.01. morgens der Tod eintrat.
Nun, in Trauer, stelle ich die Frage, welchen Stellenwert Sterbende in Deutschland haben. Sind Sie noch Menschen oder nur noch ein Bearbeitungsvorgang, eine Nummer im System? Wird das deutsche Gesundheitswesen dem Stellenwert seiner Patienten noch gerecht oder ist, wie in Deutschland in dunklen Zeiten schon einmal geschehen, das einzelne menschliche Schicksal durch den abstrakten Bearbeitungsvorgang ausgeblendet?
Ist Deutschland inzwischen wieder an einem Punkt angelangt, an dem unterschieden wird zwischen Erstklassigem (lebenswürdigem) und Zweitklassigem (lebensunwürdigem) Leben, zwischen Privat- und Kassenpatienten?
Wie anders ist zu erklären, daß Kassenpatienten länger auf eine Behandlung warten müssen wie Privatversicherte. Wie anders ist zu erklären, daß dem deutschen Gesundheitssystem nur 95 % der notwendigen Finanzmittel für die gesetzlich Versicherten bereitgestellt werden?
Wie anders ist zu erklären, daß die deutsche Politik die Solidargemeinschaft aufkündigt, nach dem Motto: Der Markt regelt sich selbst. Abgesehen davon, daß im Gesundheitsystem absolut kein Marktgeschehen stattfindet, werden ein Großteil der Kosten durch die überbordende Bürokratie verursacht, können die Pharmaunternehmen durch Oligopole Milliardengewinne erzielen, bleibt immer weniger für diejenigen übrig, um die es eigentlich gehen sollte.
Meine Mutter ist gestorben. Unter zeitweilig menschenunwürdigen Bedingungen. Als Kassenpatient. Als ehemalige Mitarbeiterin der Institution, in der Sie nun zum Sterben lag. Daß Sie sterben würde, war klar. Aber warum auf solch eine Art?
Vielleicht hatte meine Mutter einfach nur keine Lobby, nicht die richtigen Leute gekannt, war nicht bekannt genug. Sondern nur eine derjenigen, die nach dem Krieg die Fundamente des heutigen "Wohlstandes" geschaffen haben und dafür wenig bis nichts bekamen. Bis heute nicht. Armes Deutschland.
Und dann gibt es noch Politiker, die selbstbestimmtes Sterben (Sterbehilfe) aus christlichen Gründen verteufeln, aber auf der anderen Seite das Gesundheitssystem finanziell verhungern lassen. Wie ist zu erklären, daß private Vereine Sterbehospize betreiben, weil das staatliche System dazu nicht in der Lage ist? Wofür werden in Deutschland überhaupt Steuern und Sozialabgaben erhoben, wenn, wie im Fall des Sterbens, "Private" einen menschenwürdigen Abschied erst ermöglichen?Nun die letzte Frage: Warum diese Homepage, warum nicht die Toten ruhen lassen, die Dinge vergessen.
Hier die Antwort: Es wäre einfach und bequem. Wie damals nach den dunklen Zeiten. Aber das böse Erwachen wäre dafür später umso schlimmer. Eben weil ich, oder andere, einfach die Dinge hätten geschehen lassen.
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